Radiostimmen
Antje Weiss
Guter journalistischer Inhalt zeigt sich in Sprache – und damit im Sprechen. Der Anspruch, professionelle Ware auch erkennbar professionell zu präsentieren, ist daher mindestens so alt wie der Rundfunk. Doch heute kann im Internet jeder sprechen und senden. Radiostimmen stehen unter deutlich höherem Konkurrenz- oder besser gesagt Abgrenzungsdruck gegenüber den zahllosen Angeboten beliebiger Qualität, die eine Seite weiter anklickbar sind.
Auch Volontären ist diese Entwicklung bewusst. Und so kommen sie ins Sprechtraining auf der Suche nach dem, was sie meist ihre »Radiostimme« nennen, also ihre »ausstrahlende« Stimme. Spätestens mit dem Beginn des Volontariats wird allen klar: sie haben einen Sprechberuf gewählt. Die Mehrheit aber hat die eigene Stimme nicht ausgebildet, und manchen wird erst im Einführungsseminar bewusst, welche Möglichkeiten in ihr stecken.
Was die künftigen Radiostimmen vom Sprechtraining erwarten, hat sich über die Jahre verändert: Anfangs kamen viele, gerade die Internationalen Volontäre, noch mit einer leicht verwunderten Neugier in die erste Stunde: was macht man denn da, so ganz allein mit der Trainerin?
Inzwischen bringen die Volontäre mehr Erfahrungen mit, haben schon vieles ausprobiert oder schon Sprecherseminare oder -workshops besucht. Darüber hinaus merkt man ihnen an, dass sie den gesellschaftlichen Anspruch an permanente Selbstoptimierung verinnerlicht haben: sie benennen ihre »Baustellen« meist sehr konkret. In diesen Baustellen ist eines der tiefsten Schlaglöcher quer durch alle Nationalitäten und unabhängig vom Alter: »Ich mag meine Stimme nicht!« . Gleich daneben klafft »Irgendwie klingt alles gleich.« Und, etwas abseits »Ich sprech’ zu schludrig.« Und mit diesen Einschätzungen sind auch die Arbeitsschwerpunkte benannt.
Wilhelm von Humboldt definiert Sprache als »die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen« - ein halbes Jahrhundert, bevor die Möglichkeiten zur Aufzeichnung oder Sendung von gesprochener Sprache überhaupt erfunden wurden. Man könnte meinen, Wilhelm von Humboldt habe bereits alles über das Mediensprechtraining gewusst, jedenfalls steckt das ganze Arbeitsfeld des Sprechtrainings in seinem Zitat.
Die Arbeit des Geistes – »Die Dinge auf den Punkt bringen«
Es ist Arbeit, sich den Ansprüchen an eine »gute Radiostimme« zu stellen! Nach anderthalbstündiger Sitzung sind Volontärinnen und Volontäre manchmal erschöpft. Aber sie freuen sich auch, »dass jemand die Dinge, die man irgendwie schon weiß über sich und die eigene Stimme, auf den Punkt bringt.« (Zitat einer Volontärin). Dazu kommt: neunundneunzig Prozent der Worte, die Journalistinnen und Journalisten senden, nehmen den Weg über die Schrift. Die Geistesarbeit besteht also bereits darin, Sprechen und Schreiben miteinander zu verweben, damit die Gedanken nicht mehrfach den Aggregatzustand ändern müssen.
Die ewige Wiederholung – »Das akustische Laufband«
Sind Gedanken erst einmal zu einem Text geronnen, dann setzen beim Sprechen oft – und das gilt international - merkwürdige Mechanismen ein. Spannend ist, wie universal sie zur Anwendung kommen: genau wie im Deutschen, hören wir auch im Arabischen, im Serbischen oder im Dari Satzmelodien, die einem festen Muster folgen. Sie ziehen sich wie ein akustisches Laufband unbeirrbar durch den Beitrag. Wir hören nassforschen Stakkatostil oder einen vermeintlich dynamischen »es ist wichtig!«-Nachdruck, beschwingt-freundlichen Wellengang oder gleichförmiges Leiern in der Stimme. Die ewige Wiederholung gleicher und damit unverbindlicher Satzmelodien verwechseln einige mit »neutralem« Sprechen. Doch Sprechen bedeutet immer: Stellung beziehen. Auch die innere Distanzierung vom Inhalt ist eine bewusste Stellungnahme, die die Stimme transportiert. Neutralität im Sprechen gibt es nicht.
Dafür gibt es jede Menge Einflüsse und Rollenerwartungen, ja Rollenklischees, die bedient werden wollen. Zum Beispiel scheint es im Persischen Gesetz zu sein, dass Frauenstimmen weich, melodiös und charmant zu klingen haben, auch wenn sie über Kriegsgräuel in Syrien berichten. Und viele slawische Männer können nicht von der harten Reporterstimme lassen, auch wenn sie kleine Geschichten aus dem deutschen Alltag erzählen. Dann geht es um die Frage: „Was mache ich da eigentlich? Will ich das so? Kann ich auch anders?“
Der Ausdruck des Gedankens – »Eine neue Art, Texte zu denken«
Sich selbst hören zu lernen, ist immer die erste Aufgabe. Die zweite besteht darin, zu lernen, wie die eigene Stimme die Intention transportiert. Besonders merken das die Internationalen Volontäre, weil sie gleichzeitig auch noch die Übersetzung dieses Prozesses ins Deutsche für die Sprechtrainerin leisten müssen. Dass man sich um das Verständnis des Zuhörers bemühen soll, wird da ganz praktisch erfahrbar. Wie beschreiben Volontäre diesen Prozess? Sie nennen es »eine neue Art, Texte zu denken« oder »den Text erleben« oder »sich klarmachen, was man eigentlich sagen will«; »ich wollte, dass der Zuhörer kapiert, was ich meine«. Das schönste Kompliment an sich selbst machen sie mit Reaktionen wie: »Ich glaub, ich hab meinen Text noch nie so ernst genommen.«
Der artikulierte Laut – »Erstaunlich, dass mein Rücken auch mitspricht.«
Zur Arbeit des Geistes kommt dann noch die Arbeit des Körpers beim Vorgang der Lautbildung. Sprechen ist ein sehr physiologischer Vorgang: Teils spielen unkontrollierbare Abläufe und Reflexe eine Rolle dabei, wie sich das Zwerchfell senkt, wie sich die Stimmlippen berühren, wie sich die Schwingung durchs Gewebe ausbreitet, wie Raum bleibt und Kontakt stattfindet bei der Formung der Laute. Und mit dem Körperlichen, geradezu Kreatürlichen der Stimmbildung tun sich ausgewiesene Kopfarbeiter manchmal schwer. Bereits das Spüren von Resonanzen im Körper wurde vor einigen Jahren noch mit dem Etikett »esoterisch« versehen (was als vernichtendes Urteil zu verstehen ist). Allerdings ist Wahrnehmungsfähigkeit, ob auf akustischem Kanal oder auf sensorischem, die Voraussetzung für jede Veränderung. Eine freie Stimme und deutliches Sprechen sind nicht durch Anstrengung zu erreichen, sondern durch ein lustvolles Nutzen der Möglichkeiten.
Zum Glück haben sich Vorbehalte gegenüber der sogenannten Esoterik inzwischen weitgehend aufgelöst. Denn oft genug will sie ja nicht so, wie sie soll, die eigene Stimme. Immerzu ist sie belegt oder »spielt nicht mit«. Ein weiterer Aspekt: die Stimme klingt jung und das darf nicht sein. Damit dürfte die Stimme heute die einzige Erscheinungsform einer Person sein, in der Jugend als negativ gilt. Besonders Frauen bekommen oft zu hören: zu hoch, deine Stimme. Aber auch Männer leiden unter der »Diktatur der Tiefe«. Echte Begeisterung vermögen anscheinend nur noch volltönende Bässe und tiefe, gern auch leicht erotisch behauchte Frauenstimmen hervorzurufen. Was also tun die anderen, deren Stimmen vor Anspannung oder im falsch verstandenen Streben nach Tiefe brummelig, trocken, schrill, hart und resonanzarm werden? Sich der eigenen Stimme zuwenden, das Kontroll-Ohr abschalten und den Klang im Körper finden. Wie eine Volontärin sagte: »Erstaunlich, dass mein Rücken auch mitspricht.« Der eigenen Stimme zu trauen macht sie interessant und schön. Die Radiostimme hat also viele Stimmen.
Und für wen das alles? Für die Hörer!
Vor meiner Arbeit mit den Volontärsgruppen habe ich Redakteurinnen und freie Mitarbeiter aus vielen Redaktionen der Deutschen Welle als Sprechtrainerin begleitet. Vor allem Quereinsteiger haben mir beigebracht, was Journalistinnen und Journalisten bewegt in diesem vergleichsweise kurzen Prozess, in dem sie eine Nachricht, Geschichte oder Einschätzung anderen zu Gehör bringen. Dass es ein Moment der Konzentration und der Zuwendung ist und darüber hinaus auch ein feierlicher Moment, zeigte mir am schönsten jene Autorin, die stets frischen Lippenstift auflegte, bevor sie das Studio betrat und die Hörer begrüßte. Denn erst durch die Stimme kommt der Beitrag ja überhaupt in die Welt.